Was Sprache mit dem Sterben im Mittelmeer und “Wehret den Anfängen” zu tun hat

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Mittwoch, 11. Juli 2018 16:07

Als ich vor Tagen auf einen aufgebrachten, höchst kritischen Tweet zur Spiegel-Kolumne “Monsterworte” von Geord Diez (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fluechtlingspolitik-wie-die-sprache-langsam-verroht-a-1217061.html) reagierte, entspann sich in weiterer Folge eine längere Diskussion, die in mir jene Mulmigkeit hervorrief, mit der – im Eingangstweet angeführt – alles begonnen hatte.

Es ging um den Vergleich, oder vielmehr eine Parallele, die gezogen wurde, zwischen den derzeit bewusst dem Tod durch Ertrinken ausgelieferten Menschen im Mittelmeer und dem geschichtlichen Ereignis Holocaust, via der gescheiterten Konferenz im französischen Evian Juli 1938, an dem 32 Staaten teilnahmen, um über die Verteilung von 540.000 Juden zu verhandeln.
So verkürzt widergegeben, ist das natürlich weder legitim, noch sinnvoll, und die Argumentation hätte auch in dieser Form keine Berechtigung stehenzubleiben, ohne sich den Vorwurf von Verharmlosung gefallen lassen zu müssen.

Der Holocaust, die Shoah, Porajmos als zielgerichtete, geplante und letztendlich industrialisierte Tötung von Menschen ist bisher beispiellos in seiner entmenschlichten Grausamkeit und Tragweite.
Etwa 6 Millionen Juden, ca. 219.000 Sinti und Roma, etwa 250.000 Euthanasieopfer (geistig und/oder körperlich behinderte Menschen), Kommunisten, Sozialdemokraten, Zeugen Jehovas, als “rassisch minderwertig” angesehene Slawen, und Homosexuelle.
Das kann und muss so stehenbleiben.

Demgegenüber stehen bis 11. Juli 2018 seit Beginn des Jahres 47.955 Menschen, die das Mittelmeer überquerten, und 1.408, die darin ertranken. Davon ein Drittel Kinder übrigens.
Von 2014 an, bis heute überquerten 1.814.147 Menschen das Mittelmeer, davon ertranken 16.952 Menschen.
http://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean

Das sind die Zahlen.

Die Menschen, um die es geht, werden unrichtigerweise immer wieder als vor allem körperlich starke, junge Männer dargestellt, in keinster Weise arm, und finanzkräftig genug, einen Schlepper bezahlen zu können. Wenn man dann noch, wie der deutsche Innenminister Seehofer Flucht als “Asyltourimus” bezeichnet entsteht ein Bild, das nur sehr wenig mit der Realität zu tun hat.

Menschen flüchten vor Krieg, vor Misshandlung, vor Hunger, vor völliger Perspektivenlosigkeit.
Laut UNO-Flüchtlingshilfe war die Zahl der Menschen, die “die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, (…) noch nie so hoch wie heute. Ende 2017 waren 68,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Im Vergleich dazu waren es ein Jahr zuvor 65,6 Millionen Menschen, vor zehn Jahren 37,5 Millionen Menschen. 85 Prozent der Flüchtlinge lebt in Entwicklungsländern.”
Sie flüchten aus einem völlig zerstörten Syrien, vor dem Hunger im Osten Afrikas, dem Südsudan, dem Jemen, vor Kämpfen im Irak, der Zentralafrikanischen Republik Burundi und der Ukraine.
Die Unterscheidung in Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist nur mehr rein juristisch überprüfbar. Beide haben zumeist existentielle Fluchtgründe.
IOM schätzt, dass für jeden Migranten, von dem bekannt ist, dass er beim Überqueren des Mittelmeers gestorben ist, bis zu zwei Menschen in der Wüste verloren gehen – möglicherweise mehr als 30.000 Menschen seit 2014.

Eine Frau erzählt, stellvertretend für viele, vom Versuch in der Wüste zu überleben:
“Frauen lagen tot, Männer….. Andere Menschen wurden in der Wüste vermisst, weil sie den Weg nicht kannten”, sagte Janet Kamara, die damals schwanger war. “Jeder war auf sich allein gestellt.”
Ihr Körper schmerzt noch immer von dem toten Baby, das sie während der Wanderung geboren und in der Sahara zurückgelassen hat, begraben in einem flachen Grab im geschmolzenen Sand. Das Blut hat ihre Beine tagelang gestreift, und Wochen später sind ihre Knöchel immer noch geschwollen. Jetzt in Arlit, Niger, taumelt sie von der Zeit, die sie in der “Wildnis” verbracht hat, und schläft im Sand.
Leise, mit fast gefühlloser Stimme, erinnerte sie sich an mindestens zwei Nächte im Freien, bevor ihre Gruppe endlich gerettet wurde, sagte aber, dass sie die Zeit vergessen habe.
“Ich verlor meinen Sohn, mein Kind”, sagte Kamara, eine Liberianerin, die ihr eigenes Geschäft in Algerien führte und im Mai vertrieben wurde.

Die Massenvertreibungen in Algerien haben seit Oktober 2017 zugenommen, als die Europäische Union erneut Druck auf die nordafrikanischen Länder ausübte, um Migranten, die über das Mittelmeer oder die Sperrzäune mit Spanien nach Europa reisen, abzuwehren.

In Arlit, ca. 6 Stunden südlich von Assamaka: ein Mann in der Mitte mit Narben an Händen und Armen war so traumatisiert, dass er nie sprach und nicht ging. Die anderen Migranten nahmen an, er habe das Unaussprechliche in Algerien ertragen, einem Ort, an dem viele sagten, sie seien von den Behörden ausgeraubt und geschlagen worden. Obwohl sie nichts über ihn wussten, wuschen und kleideten sie ihn zärtlich in saubere Kleidung und legten ihm Essen aus, damit er essen konnte. Er begab sich in der Mittagssonne auf eine Endlosschleife des Hofes.
(Ausschnitte aus https://apnews.com/9ca5592217aa4acd836b9ee091ebfc20
Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator)

Es sind verzweifelte Menschen, die fliehen. Junge, ältere, Männer, Frauen, Kinder, und wenn man um die Gefahren und oft unmenschlichen Bedingungen solch einer Flucht weiß, ist es nicht verwunderlich, wenn sehr viele körperlich starke, junge Männer in der Überzahl sind.
24,9% Kinder, 16,7% Frauen, 58,5% Männer besteigen Boote, manche ertrinken.

Es ist nicht das Bild, das Herr Seehofer mit seinem Ausdruck “Asyltourismus”, zu vermitteln versucht: halbwegs begüterte, junge, starke Männer bezahlen einen Schlepper, besteigen ein Boot und landen bequem in Europa.
Frauen und Männer, die zu arm sind, um Schuhe zu besitzen, umwickeln ihre Füße mit Stoff-Fetzen um bei bis zu 48 Grad Celsius in der Wüste stunden- und tagelang weiterlaufen zu können…..

“Menschenfleisch” nennt sie der italienische Innenminister Salvini ungeniert und ungestraft. “Menschenfleisch”, das degradiert einen lebendigen Menschen zu einem Stück lebloser Ware. Lebloser Ware ist es aus sich heraus egal, wo und wie sie untergebracht wird, und wie mit ihr umgegangen wird.
Auch von außen betrachtet, muss man nur wenige innere Ressourcen in die Unterbringung von Ware aufbringen.

Der österreichische Innenminister Kickl wiederum wollte Flüchtlinge “konzentriert” unterbringen. Dass dem ehemaligen FPÖ-Strategen der verbale Ausrutscher einfach so passiert ist, scheint unglaubwürdig.

Seither wird auf Sprache, zumindest wenn es Unterbringung betrifft, wesentlich mehr geachtet: “Ausschiffungsplattformen”, “Ankerzentren”, “Transitzentren” ….
Das klingt nach geordneten Verhältnissen, Waschmöglichkeiten, Betten, ausreichend zu essen, Kleidung, freundliche Menschen, die einem dabei helfen, einen Asylantrag zu stellen.

Nein! Asylanträge sollen bitte keine mehr gestellt werden dürfen.
Es will sie nämlich eigentlich niemand mehr haben, die vielen, fremden Menschen, mit dunkler Hautfarbe, mit anderem Glauben, die sich hier nicht einfügen wollen, eine Bedrohung darstellen, für …… ach, für einfach alles.
So sagen es Teile der EU. Österreichs Bundeskanzler Kurz präzisiert es auf seine eigene Art, und sieht den europäischen Lifestyle gefährdet.

Deshalb müssen jetzt die Roma in Italien einfach mal gezählt werden, meinte Innenminster Salvini. Wofür?
Am Ferragosto-Treffen seiner Partei, Maria Himmelfahrt 2016, gab er Einblicke in sein Menschen- und Weltbild:
Er wolle “kontrollierte ethnische Säuberungen”. All die “Zecken”, “Bettler”, “Fensterputzer”, jene, die “in langen Schlangen vor unseren Krankenhäusern herumlungern”, sie alle gehörten auf einen großen Lastwagen verfrachtet, der sie in 200 km Entfernung, irgendwo im Wald absetze. Italien wieder den Italienern!
Die Befürchtung, dass die Roma zu der Gruppe gehören, die er gerne im Wald sehen würde, liegt nahe, wenn er sein Bedauern darüber äußert, dass Italien die Roma mit italienischer Staatsbürgerschaft “leider behalten” müsse, die Siedlungen der Illegalen könnten abgerissen werden.
Die norditalienische Region Lombardei hat bereits einem Beginn der Zählung zugestimmt.
https://nachrichten-aktuelle.com/2018/07/05/italien-region-lombardei-startet-mit-roma-zaehlung/

Der Ungeist der Angst und der Bedrohung schlägt sich wieder Bann. Die Sprache verändert sich. Fronten entstehen, die eine Seite bedient sich bereits altbekannter Methoden der entmenschlichenden Umschreibung, die andere Seite sieht ein “sterben lassen” von Menschen nicht als legitime Vorgangsweise.

Wenn Menschen wie ich, sich auf den Nationalsozialismus beziehen, dann beziehen sie sich zumeist auf die “Unmenschlichkeit” einer “Problemlösung”.
Es war einzigartig grausam, wie perfide, systematisch und gezielt unmenschlich der Hass gegenüber Juden ausagiert wurde, die Vernichtung eines ganzen Volkes betrieben wurde. Es war nur möglich, weil Juden nicht mehr als Menschen gesehen wurden. Sie wurden propagandistisch entmenschlicht.
Es mag dem einen mulmig werden beim Vergleich, mir wird mulmig, wenn Menschen wieder propagandistisch entmenschlicht werden. Indem ihnen, wie damals, gierige Motive unterstellt werden, sie als “Menschenfleisch” bezeichnet werden dürfen, diffamiert, erniedrigt, gehasst …… Und es soweit ist, dass man sie vorsätzlich, wissentlich und mit unterlassener Hilfeleistung sterben lässt. Als Warnung. Das sollte eine Grenze sein!

Und wenn mir darob Dummheit unterstellt wird, dann nehme ich zur Kenntnis, das mein Gegenüber eine andere Meinung vertritt, die offensichtlich nicht ganz so einfach argumentativ stichhaltig begründbar ist.

Es ist nicht dumm, es ist das absolute Bekenntnis zum Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (die übrigens 3 Jahre nach dem Nationalsozialismus entstand):
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Wenn wir diese Errungenschaft, Erkenntnis ignorieren, landen wir wieder in der Barbarei, wie auch immer sie dann aussehen mag.

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